1918, Interventionskriege gegen die Sowjetunion, Die Verteidigung von Zarisyn

Karte des Wolga-Don Gebietes um 1918

Alexej Tolstoi, „Brot, Die Verteidigung von Zarisyn „, Berlin 1953

1918

Im Jahr 1918 befand sich die junge Sowjetunion in einer schwierigen Situation. Die Versorgung der Industriereviere um Petrograd und Moskau mit Nahrungsmitteln konnte nicht gewährleistet werden, obwohl in den Getreideanbaugebieten am Don und an der Wolgamündung genügend Getreide vorhanden war. Es fehlte vor allem an Transportmitteln. Außerdem wurde mit Zarisyn (später Stalingrad, heute Wolgograd) eine wichtige Industriestadt und Verkehrsknotenpunkt von den Weißgardisten bedrängt.

Die von Trotzki eingesetzten „Sowjets“ sabotieren die Revolution und glänzen nur durch revolutionäres Vokabular. Um die Erfolge der Revolution zu verteidigen wird Stalin von Lenin mit Sondervollmachten ausgestattet und nach Zarisyn geschickt. Als erstes läßt sich Stalin vom örtlichen Leitern des Sowjet Moskalew und Ehrmann berichten:

„……Dabei zog Stalin aus einem Aktendeckel ein Blatt Papier hervor. „Das habe ich heute unterwegs erhalten.“ Er legte Moskalew ein Telegramm hin, das Lenins Unterschrift trug.

,, … Was die Lebensmittelversorgung anbetrifft, so muß ich sagen, daß heute weder in Perrograd noch in Moskau überhaupt etwas verteilt wird. Die Lage ist äußerst schlecht. Teilen Sie mir mit, ob Sie sofort etwas unternehmen können, denn außer durch Sie ist nirgends etwas zu beschaffen … „

Moskalew las das Telegramm und schob es schweigend Ehrmann zu. Unterdessen fuhr Stalin fort:

„Ich schlage vor, das Exekutivkomitee hat sich sofort mit der Frage zu befassen, wie der empörenden Verschleuderung von Brot ein Ende gemacht werden kann. Das Proletariat in Moskau, in Iwanowo-Wosnessensk, in Petrograd bekommt nur ein achtel Pfund, und Wladimir Iljitsch telegrafiert, daß auch dies Achtel nicht mehr ausgegeben wird, das bedeutet, daß nicht nur diese Städte, sondern unsere ganze Revolution in Gefahr ist. Wegen der Bequemlichkeit von zehntausend Flüchtlingen in Zarizyn können wir nicht die Revolution ohne Brot lassen … „

„Wir sollen in Zarizyn die Brotkarte einführen?“ Moskalew versuchte, den Tisch von sich fortzustoßen, aber er ließ sich nicht von der Stelle rücken. Da zwängte er sich schwerfällig durch, ging hin und her, zog die Reithose hoch. ,,Wir sind gerade darauf stolz, daß wir in diesen fürchterlichen Zeiten, wo die ganze Bande der Gegenrevolutionäre schreit: ,Bolschewistenwirtschaft  bedeutet  Hunger und Chaos‘, daß es uns da gelungen war, Zarizyn in eine blühende Stadt zu verwandeln. Unsere Fabriken erzielen fast fünfzig Prozent der Vorkriegsproduktion – und das bei der Nähe der Front. Das Schulnetz ist erweitert; fast alle Werktätigen sind in Gewerkschaften organisiert; die Frauenbewegung hat einen ungeheuren Aufschwung genommen, alle Vorbereitungen für große Gemeinschaftsbauten werden getroffen … „

,,Du hast noch die Musik auf dem Boulevard vergessen“, unterbrach ihn Ehrmann mit bebender Stimme, ,,und die Offizierskneipen mit Tanz, und daß die Schieber das Pud Salz bereits auf hundert Rubel hinaufgetrieben haben.“

„Das sind Seifenblasen!“ schrie Moskalew. ,,Die zerdrücken wir.“ Er warf von der Seite einen Blick auf Stalin; aber der paffte in aller Ruhe seine Pfeife. ,,Der Kern der Sache sitzt tiefer: der Zarizyner Proletarier baut sich seine Zukunft mit seinen eigenen Händen. Der Zarizyner Proletarier vertraut mir, Moskalew, daß ich ihn zum Siege führen werde. Und ich soll ihn auf Hungerration setzen, soll ihn mit allen zusammen in den großen russischen Topf werfen? Und das nur deswegen, weil die Arbeiter in Iwanowo-Wosnessensk bloß ein achtel Pfund Brot erhalten? … Das wird der Zarizyner Arbeiter nicht verstehen … „

Beim Sprechen beobachtete Moskalew den Eindruck, den seine Worte machten, und der fiel nicht zu seinen Gunsten aus. Ehrmanns Gesicht verzerrte sich zu einer verächtlichen Grimasse. Stalin ließ den anderen ruhig aussprechen, aber es sah nicht so aus, als ob man diesen Menschen wankend machen könnte. Mit heiterem Blick, über alles informiert, mit undurchdringlicher Miene – so pochte er zwar nicht auf seine außerordentlichen Vollmachten, aber man vergaß keinen Augenblick, daß er sie in der Tasche hatte. Und wer etwa mit ihm nicht Schritt hielt, der wurde fallengelassen.

Diese Gedankensprünge hatten natürlich keinen Einfluß auf die Begeisterung, mit der Moskalew seine Worte vortrug. Als er aber bemerkte, daß sie kaum noch einen Eindruck machten, begann er, vorsichtig von seiner Höhe herabzusteigen.

„Ich sage das alles nur zu dem Zweck, Genosse Stalin, damit Sie die Kompliziertheit der hiesigen Situation erkennen … Wir befinden uns hier unter ganz besonderen Verhältnissen. Das hiesige Proletariat ist im Dorf verwurzelt, es ist an Getreideüberfluß gewöhnt. Wir sind hier an der Wolga, der Kornkammer ganz Rußlands . Werden die Leute es verstehen? Ich fürchte, ich fürchte … „

,,Wer sich vor den Wölfen fürchtet, soll nicht in den Wald gehen. Ich teile Ihre Bedenken nicht, Sergej Konstantinowitsch“, sagte Stalin heiter, als wäre er zufrieden, daß eine gewisse Etappe bereits zurückgelegt sei. ,,Die Arbeiter werden es verstehen, wenn man es ihnen richtig erklärt. Sie werden ausgezeichnet verstehen, daß das Getreidemonopol und das Kartensystem vielleicht schwerer zu ertragen sind als der Kampf im Schützengraben, aber sie werden auch verstehen, daß diese Dinge die Revolution entscheiden. Und sie werden dieses Opfer bringen, wenn man sie zu überzeugen versteht.“

Moskalew lächelte und schüttelte ungläubig den Kopf. Dann nahm er wieder am Tisch Platz. ,,Da haben Sie uns eine nette Aufgabe gestellt, Genosse Stalin.

Was meinen Sie, mit welchen Maßnahmen sollen wir praktisch beginnen?“

,,Ich schlage vor, eine allgemeine Parteikonferenz einzuberufen.“

,,Zu wann?“

,,Morgen. Weshalb soll man die Sache verschieben?“

,,Werden wir denn bis dahin die Tagesordnung aufstellen können?“

,,Kommen Sie beide morgen früh gegen sieben zu mir.“

„ Um sieben Uhr morgens?“ Moskalew fuhr sich mit der Hand durch die Haare. ,,Dann will ich sogleich aufbrechen. Man muß sich die Dinge durch den Kopf gehen lassen, das Material vorbereiten. “ Er stockte, blickte fragend auf.

Stalin fuhr mit der Pfeifenspitze über das Wachstuch, als schriebe er Zeilen.

„Die Frage der Einführung des Getreidemonopols und des Kartensystems; Kampf mit den Transportschwierigkeiten; Verstärkung der militärischen Kommandogewalt; Kampf mit der Gegenrevolution; Stärkung der Parteiorganisation und Entfaltung der politischen Arbeit unter den Massen; Kampf gegen Disziplinlosigkeit, Panik, kurz gegen das Chaos … Die Tagesordnung wird umfangreich sein.“

Stalin erhob sich und drückte wieder kameradschaftlich schlicht Moskalew und Ehrmann die Hand. Beim Fortgehen verweilte Moskalew einen Augenblick in der Tür, drehte sich aber nicht um, obgleich er sich nicht so bald von jemand auf den Schwanz treten ließ. Er hustete nur kräftig und stieg schwerfällig die Stufen hinunter. Erst als er sich im Auto bequem zurückgelehnt hatte, sagte er: ,,Jaja … „

Unterdessen wurde Stalins Salonwagen auf ein Nebengleis geschoben und an das Telefonnetz der Stadt angeschlossen. Stalin begann zu arbeiten. Seine beiden Sekretäre, schweigsame, leise Menschen, riefen telefonisch die Vorsitzenden und Sekretäre der Organisationen und Behörden der Partei und der Sowjets herbei, bereiteten die Materialien vor, stenographierten, ließen die Hergerufenen herein und begleiteten sie hinaus.

Der Leiter der Tscheka betrat Stalins Wagen heiter wie die-Morgensonne und verließ ihn auf der anderen Seite bleich und erschüttert. Der Leiter des Eisenbahn-Gesundheitsamtes wartete nicht erst die Einladung in den Sonderwagen ab, sondern ordnete an, sofort den Bahnhof und den Bahnsteig zu kehren, und schickte zu diesem Zweck einen Lastwagen in die Vorstadt, um die Frauen von Kleinbürgern herbeizuschaffen. Mit Besen bewaffnet, trafen sie bald zur Gemeinschaftsarbeit ein. Aber aus Angst und Ärger wirbelten sie einen solchen Staub auf, daß man von dieser Form der sanitären Maßnahmen Abstand nehmen mußte.

Den ganzen Tag kamen Menschen über die rostigen Schienen und fragten nach Stalins Wagen. Bald hatte er ein getreues Bild dessen, was in der Stadt, im ganzen Gebiet und an der Front vorging. In der Nacht kamen die Arbeiter, die Vertreter der Fabrikkomitees und einige einzelne untere Funktionäre. Und erst als hinter dem zerbrochenen Stationszaun und dem Gitter der Bahnüberführung, hinter den ärmlichen Dächern und der dunklen Wolga grünes Licht sich ausbreitete und die Morgenröte am wolkenlosen Himmel aufflammte, erst da erlosch das Licht in Stalins Waggon in allen Fenstern zugleich.

Am Morgen wurde folgendes Blitztelegramm aufgegeben: ,,An Lenin, Moskau, Kreml. Bin am Sechsten in Zarizyn eingetroffen. Trotz dem Durcheinander in sämtlichen Zweigen des wirtschaftlichen Lebens ist es möglich, hier Ordnung zu schaffen. In Zarizyn, Astrachan und Saratow wurden Monopol und feste Preise durch die Sowjets abgeschafft; Schwelgerei und Schieberturn blühen.

Ich habe die Einführung des Kartensystems und fester Preise in Zarizyn erreicht. Dasselbe muß in Astrachan und Saratow erreicht werden, sonst entführen die Schieber durch diese Ventile das gesamte Getreide. Das Zentral-Exekutivkomitee und der Rat der Volkskommissare mögen ihrerseits von den Sowjets dieser beiden Städte die Einstellung der Spekulation verlangen.

Der Gütertransport auf der Eisenbahn ist völlig ruiniert durch die Unzahl der Kollegien und Revolutionskomitees. Ich bin genötigt, besondere Kommissare hinzustellen, die bestimmt Ordnung schaffen werden, ungeachtet der Proteste der Kollegien. Die Kommissare entdecken eine Menge Lokomotiven an Stellen, von deren Vorhandensein die Kollegien keine Ahnung hatten. Die Untersuchung hat ergeben, daß auf der Strecke Zarizyn-Poworino-Balaschow-Koslow-Rjasanj-Moskau täglich acht und mehr direkte Transportzüge verkehren können.

Zur Zeit bin ich mit dem Sammeln von Zügen in Zarizyn beschäftigt. Nach einer Woche werden wir die ,Getreidewoche‘ verkünden und dann auf einmal eine Million Pud abschicken.“

…..

Die „Dämchen“, die aus den Hauptstädten im Norden hierher geflüchtet waren, betrachteten verständnislos die neuen Brotkarten, die nur denen das Recht auf ein viertel Pfund Brot einräumten, die bei den Sowjetbehörden arbeiteten. ,,Nichtwerktätigen Elementen“ standen keine Karten zu. ,Mein Gott, mein Gott, wer hat vor dieser Revolution sich wegen des Brotes den Kopf zerbrochen?‘ Die Köchin ging in den Bäckerladen und kaufte es ein, und die Ärzte empfahlen sogar, wenig Brot zu essen. Es war, als ob auf einmal im Brot ein besonderer, ein grausamer Sinn lag. Aber wie wollte man denn ganz ohne Brot bestehen können? Die einen beschlossen, dieser Hölle zu entfliehen, die anderen wollten rachsüchtig die Ankunft des Generals Krasnow abwarten.

Die Schieber steckten ihre Apachenhemden für bessere Zeiten weg, höhlten die Absätze an ihren Schuhen aus und verbargen darin Brillanten und Platin. Liberale Funktionäre, zaristische Beamte, kleine Gutsbesitzer, die sich mit ihren Familien vor den aufständischen Bauern hierher gerettet hatten – ähnlich wie im 17. Jahrhundert die Bojaren und Adligen vor den Krimtataren hinter die Mauern des befestigten Serpuchow oder Kolomna -, alle diese Bewohner der inneren Stadt dachten darüber nach, ob sie nicht doch zeitweilig irgendein stilles Ämtchen bei dieser oder jener Sowjetbehörde übernehmen sollten.

Aber jeder neue Tag brachte neue Überraschungen. An den kiefernen Telegrafenstangen, an allen Zäunen, die nach altrussischer Tradition geschaffen schienen, ein ungestörtes Schlafplätzchen für betrunkenes Bettelvolk abzugeben, prangten weiße Anschlagzettel mit dem neuen Erlaß des Exekutivausschusses: ,,Die gesamte, nichtwerktätige ·Bevölkerung hat sich unverzüglich an den Verteilungsstellen zum Empfang von Schanzwerkzeug zu versammeln und sich in Gruppen in die Steppe zu begeben, um vor der Stadt Schützengräben auszuheben. Für diese Arbeitsleistung werden Brotkarten ausgegeben.“

…..“

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