1941, Der Beginn der Blockade von Leningrad

Leningrad im November 1941

Tschaikowski, Alexander: „Die Blockade“, Moskau 1971

1941

Im November 1941 war eine Versorgung der 3 Millionen Leningrader nur noch über den Ladogasee möglich. Die Rationen für die arbeitende Bevölkerung wurde auf nur noch 250 g Brot gekürzt. Tausende Menschen verhungerten täglich. Die letzte Eisenbahnstrecke zum Ladogasee führte über die Stadt Wolchow. Am 16. November begann die faschistische Wehrmacht eine Offensive, um auch diese Verbindung zu kappen.

„…..

Da schnurrte schon ein anderer Apparat – Samirowski. ,,Genosse Oberbefehlshaber, ich möchte melden, es wird schon vor meinem Gefechtsstand gekämpft.“

„Warum rufst du da an?“ Fedjuninski unterdrückte gewaltsam seine Nervosität. Gewiß rechnete Samirowski mit der Genehmigung, sich zurückziehen zu dürfen. Das aber konnte Fedjuninski nicht genehmigen. ,,Weiterkämpfen!“ befahl er kalt. ,,Wenn du den Feind· nicht beizeiten zurückgeworfen: hast, dann schlag dich auf deinem GS.“

Samirowski schwieg. In der Muschel rumorte es nur noch von Einschlägen und MG-Geknatter.

„Samirowski ! Samirowski !“ schrie Fedjuninski, der sich nicht mehr beherrschen konnte; er hatte das Gefühl, daß am andern Ende der Leitung was passiert war.

Die Verbindung war unterbrochen. Der OB hörte gar nichts mehr weder die Stimme des Divisionskommandeurs noch Einschläge oder MG-Geknatter. Der Apparat war tot. Fedjuninski warf den Hörer auf den Tisch. Eine Zeitlang saß er ohne sich zu rühren, den Blick auf dem andern Apparat, der ihn mit Tschekin verband. Dann stand er auf und rief den Adjutanten. ,,Wer von den Stabskommandeuren ist da? Schick mir einen rein!“

Kurz darauf erschien Swjaginzew. Fedjuninski dachte an den gestrigen Disput mit ihm, und aus unerfindlichen Gründen wäre ihm lieber gewesen, ein anderer wäre gekommen. Unwillkürlich entfuhr ihm: ,,Wo sind die andern?“

Swjaginzew zählte auf: ,,Der Stabschef ist immer noch auf dem alten GS, General Mikulski ist bei der Truppe, der stellvertretende Chef der Operationsabteilung telefoniert …. „

,,Na schön“, unterbrach ihn Fedjuninski. ,,Im Abschnitt der 310. droht ein Einbruch. Der Divisionskommandeur hat Befehl, auf keinen Fall zurückzugehn. Ich weiß nicht, ob er das verstanden hat. Die Verbindung wurde unterbrochen. Gekämpft wird am Gefechtsstand. Man muß … „

,,Wenn Sie gestatten, werde ich zur Division fahren und den Befehl überbringen“, schoß es aus Swjaginzew heraus.

„Du?“

„Genosse Oberbefehlshaber“, Swjaginzews Stimme überschlug sich fast, ,,ich stehe seit der zweiten Kriegswoche im Einsatz. Habe faktisch ein·Bataillon geführt. Ich bitte Sie …“

„Schnapp dir einen Wagen und hau ab! Richte Samirowski aus, es wird bis zum letzten Mann gekämpft und sich festgekrallt. Sonst ist Wolchow verloren, und die Deutschen brechen zum Ladogasee durch. Also los! Verschwinde! Ich hoffe nur… Und daß die Verbindung wieder hergestellt wird!“ rief er dem davonhastenden Swjaginzew noch nach.

Der Gefechtsstand der 310.·Division lag fünfzehn Kilometer östlich von Wolchow. Swjaginzew schwang sich·in den Wagen und fragte den Fahrer: ,,Kennst du Sadnewo?“

,,Meinen Sie den Gefechtsstand von .Samirowski ?“

,,Genau den! Hol raus aus der Kiste, was drin ist!“

Der Fahrer antwortete keine Silbe, nickte nicht mal.

Swjaginzew konnte die Stabsfahrer nicht ausstehen. Gewohnt, ihre hohen Chefs zu fahren, waren sie in der Regel ganz lässig-forsche Geringschätzung gegen alle andern Kommandeure, mit denen sie gemeinhin nichts zu tun hatten.

Der Fahrer ging auf Tempo. Swjaginzew musterte ihn aus den Augenwinkeln: glattpoliertes Gesicht, auf der Oberlippe kleiner blonder, gelbgerauchter Wisch, sorgsamst beschnippelt, Fellmütze weit in den Nacken geschoben. Der-Major hatte ihn bisher nicht zu Gesicht bekommen. Er schien Fedjuninskis Stab „als Erbteil“ der. Wolchow-Gruppe zugefallen zu sein.

„Name?“ fragte·Swjaginew.

,,Wünschen Sie regelrechte Meldung?“ Der Fahrer nahm den Blick nicht von der schneezerbuckelten Straße mit den gut sichtbaren Fahrzeugspuren.

,,Könnte nicht schaden“, versetzte Swjaginzew trocken.

,,Sergeant Moltschanow.“

„Habe ich ein Glück mit den Fahrern!“ Swjaginzew grinste. „Der eine heißt Rasgoworow und der andre Moltschanow“ (Rasgoworow, etwa der Gesprächige; Moltschanow, der Schweiger)

„Haben Sie sich von ihm getrennt, weil Ihnen der Name nicht paßte?“

,, Von Rasgoworow hätte ich mich nie und nimmer getrennt. Er ist gefallen“, sagte Swjaginzew. „Und vorher. hat er mir das Leben gerettet.“

Da drehte Moltschanow kurz den Kopf, schoß dem Major einen Blick zu und wandte sich wieder nach vorn.

Swjaginzew aber dachte nur noch an das, was vor ihm lag. Im Grunde War sein Auftrag denkbar einfach: dem Divisionskommandeur den Befehl bringen, sich auf jeden Fall zu halten und das Kabel zu reparieren. Das erste hätte jeder Melder besorgen können; und das zweite mochte der Divisionskommandeur schon von sich aus veranlaßt haben. Trotzdem befand sich Swjaginzew in freudiger Stimmung.

Jeden, heißt es, der einmal in der Arktis oder der Wüste gewesen ist, zieht es wieder nach dort zurück. Kein Zweifel, daß auch den Soldaten, sofern er dies aus Berufung ist und einmal im Feuer lag, das Kampfgetümmel reizt. Ihn ruft nicht nur das Pflichtbewußtsein, sondern noch etwas anderes, Unerklärliches, Unfaßbares. Ähnliches treibt den Seemann immer wieder auf die See mit ihren Winden und Stürmen, die er nie und nimmer gegen ein ruhiges Landleben tauschen möchte.

Seit Swjaginzew ins Lazarett gekommen war, trachtete er danach, an die Front, und mehr, in die vordersten Linien zurückzukehren. Sowohl in den Kirow-Werken als auch im Stab der Front hatte es ihn dorthin gezogen. Jetzt endlich jagte er dem Gefecht entgegen! Als Stabskommandeur wußte er natürlich, daß Kämpfe am Divisionsgefechtsstand ein besonderes Vorkommnis, Vorboten einer Katastrophe waren. Trotzdem wollte · die lang entbehrte Hochstimmung von ihm nicht weichen.

….“

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