
Jähn, Sigmund: „Erlebnis Weltraum“, Berlin 1983
1978
Siegmund Jähn wurde 1937 geboren. Nach einer Ausbildung zum Jagdflieger in der NVA wurde er zum Studium an die Militärakademie nach Moskau delegiert. Anschließend war er bis 1976 in der Jagdfliegerausbildung der DDR tätig.
1976 begann seine ca. 2-jährige Ausbildung zum Kosmonauten. Am 26. August flog er zusammen mit dem sowjetischen Kosmonauten Waleri Bykowski mit dem Raumschiff Sojus 31 zur Raumstation Salut 6.
Den Start beschreibt er wie folgt:
„…..Im Sojus-Simulator hatten wir den Start ebenso wie andere Flugetappen … zigmal trainiert. Sogar den Lärmpegel hatte man imitiert. Aber zwei Belastungsfaktoren waren nicht simuliert worden: Beschleunigung und Vibration. Jetzt erlebte ich auf ungewöhnliche, doch sehr nachhaltige Weise, was mir theoretisch längst klar war. Der Leser möge verzeihen, daß ich mir an dieser Stelle eine kleine Lektion in Physik nicht verkneifen kann – eben weil ich ihre Gesetze auf praktische Art kennenlernte.
Bekanntlich versteht man unter Erdbeschleunigung die Beschleunigung, die ein frei fallender Körper infolge der Schwerkraft erfährt, die unsere Erde auf ihn ausübt. Alle Körper unterliegen dieser Wirkung. Im freien Fall vermittelt die Schwerkraft eine Beschleunigung von 9,81 m/ s2. Dieser Wert wird mit g bezeichnet, wobei g für Gravitation oder Schwerkraft steht. Die Geschwindigkeit hat faktisch keinen Einfluß auf unseren Organismus. Im Prinzip ist es egal, ob wir nun mit 28 km/h auf dem Fahrrad oder mit 280 km/h im Rennwagen fahren, mit 2 800 km/h im Überschallflugzeug fliegen oder schließlich mit 28 ooo km/h im Raumschiff die Erde umrunden.
Aber Veränderungen der Geschwindigkeit, ihre Erhöhung oder Verringerung, bewirken spürbare Beschleunigungskräfte. Wir kennen sie beim plötzlichen Bremsen eines Autos, bei Richtungsveränderungen schnell fliegender Flugzeuge, zum Beispiel bei steilen Kurven oder beim Abfangen aus dem Sturzflug. Vom Start bis zum Einschwenken in die Umlaufbahn, das heißt während der etwa zehnminütigen Aufstiegsphase, muß die Geschwindigkeit der Rakete von o auf 28 ooo km/h gesteigert werden. Dabei entsteht unter normalen Bedingungen ein Beschleunigungsandruck, der auf den Menschen wie die Zunahme seines Körpergewichts auf das Drei- bis Vierfache wirkt. Für den Jagdflieger ist das nicht ungewöhnlich. Bei Figuren des höheren Kunstfluges und des Luftkampfes, etwa beim Einleiten von Loopings, sind fünf-, sechs- manchmal auch achtfache Überlastungen möglich. Bei einer Körpermasse von 70 Kilo kann man plötzlich die achtfache Last seines Körpers verspüren. Verständlich, daß die Hand, wenn sie unter solchen Umständen einen Schalter betätigen soll, irren kann – aber nicht darf!
Entscheidend für die Auswirkung von Beschleunigungen auf den Menschen sind Wirkungsrichtung und Wirkungszeit. Unser Organismus kann Beschleunigungen, die in Richtung Brust-Rücken wirken, leichter ertragen als in Richtung Kopf-Becken. Das ist erklärlich. Bei hoher Überlastung in Richtung Kopf-Becken versackt das Blut aus den oberen Körperpartien. Jeder Jagdflieger kennt das. Man hat die Augen weit geöffnet und sieht die Geräteanzeigen plötzlich undeutlich; man meint, ein grauer Schleier liege in der Kabine. Spätestens jetzt wird der Flugzeugführer die Überlastung durch entsprechende Steuerbewegungen verringern, denn die nächste Stufe wäre Bewußtlosigkeit. Diese Phänomene dauern meist nur Sekunden oder Bruchteile von Sekunden, und man wird gut mit ihnen fertig. Mitunter hat es sogar Spaß gemacht, die Möglichkeiten unserer MiGs maximal zu testen und uns selbst an die Grenze unserer körperlichen Belastbarkeit heranzufliegen. Körper und Psyche haben gewiß dabei gewonnen.
So vermittelte mir die startende Rakete zunächst viele bekannte und vertraute Eindrücke. Aber es gab zwei beachtliche Unterschiede zum Jagdflugzeug: Zum einen dauerte die Beschleunigungsphase – wenngleich nicht ständig mit dem höchsten Andruck wirkend – immerhin fast neun Minuten. Bei einem Looping oder auch in einer steilen Vollkurve dagegen währt sie nur einige Dutzend Sekunden. Zum anderen steuerten wir die Rakete nicht selbst; sie gehorchte ihren eigenen Gesetzen. Mit jeder Tonne verbrannten Treibstoffs wurde sie leichter und schneller, weil die Triebwerke mit gleicher Leistung nun eine geringere Masse von der Erde wegrissen. Das SchubMasse-Verhältnis verbesserte sich, wie die Techniker sagen. Damit wuchs die Beschleunigung.
Beide Unterschiede empfand ich als recht unangenehm. Die lang anhaltende Überlastung ließ mir die Startphase wie eine Ewigkeit vorkommen, und meine passive Rolle bei der Veränderung des Andrucks störte mich zusätzlich. Ich fühlte mich etwa so, als säße ich in einem Übungsflugzeug hinten und der Flugschüler vorn wollte mir beweisen, daß er eine unwahrscheinlich lange Kette von Loopings fliegen könnte.
Wieder meldete sich die Stimme des Flugleiters. »Achtzig Sekunden – Flug normal.«
Diese Mitteilungen bedeuteten für uns nicht bloße Zeitinformationen, womöglich zu unserer Abwechslung gedacht. Pausenlos wurden neben den Werten über unsere Körperfunktion Hunderte technische Parameter der Rakete übertragen. So wußten wir bei jeder Zeitinformation auch zugleich, in welcher Höhe wir uns befanden und welche Operationen an unserer Rakete programmgemäß abliefen.
Die Beschleunigung wuchs inzwischen ständig weiter, und es waren noch keine zwei Minuten um………..“

Zur Freude aller Kinder war das Sandmänchen und Mascha auch dabei.